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Hab dich nicht so

Prävention

 

»Als hauptamtlicher Jugendreferent stehst du immer mit einem Bein im Knast.«


Dieser geflügelte Spruch zu Beginn der Strafrechts-Vorlesung klang im Studium lustig. Während meiner Schulung zur Prävention sexueller und sexualisierter Gewalt wurde mir im Rückblick auf meine ersten Dienstjahre in der Jugendarbeit dann klar: Bei aller wilden Kreativität und jugendlichen Verrücktheit in der Programmgestaltung für Jugendliche schießt man schneller über das Ziel hinaus, als ich anfangs für möglich hielt. Heikle Situationen entstehen leichter, als ich vermutet hätte. Und auch wenn nie das Gefängnis drohte, ermöglichten meine Entscheidungen und mein Verhalten doch grenzverletzende Situationen, die ganz anders hätten ausgehen können - auch im Bereich sexualisierte und sexuelle Gewalt.


Ich will von drei Begebenheiten auf einer Jugendfreizeit erzählen, die mir rückblickend zeigen, wie wichtig eine hohe Sensibilität zu diesem Thema und eine offene Kommunikationskultur im Team sind.


1. Nach 26 Stunden Fahrt kamen wir nachts um 2 Uhr an unserem Freizeithaus an. Der einzige Wunsch war Schlaf. Die Zimmereinteilung hatten wir bereits auf der Fähre gemacht und die einzige Möglichkeit festgestellt: Mitarbeitende teilen sich nach Geschlecht auf die Teilnehmenden-Zimmer auf. So kam es zu Situationen, in denen Teilnehmende sich mit Mitarbeitenden gemeinsam umziehen mussten: Ein unausgesprochenes Übertreten der individuellen Schamgrenzen und eine niedrige Schwelle für mögliche Übergriffe oder Verdächtigungen. Für mich heute ein No-Go.

 

2. Einen Nachmittag verbrachten wir geschlechtergetrennt. Dabei sollten die Jungen einige Challenges für die Mädchen vorbereiten – und umgekehrt. Unter den Teilnehmenden und Mitarbeitenden entwickelte sich eine ausgelassene und lustige Dynamik, die keiner unterbrechen wollte, auch als immer extremere Ideen für die Aufgaben vorgeschlagen wurden.

Letztlich sollten zwei Mädchen in einem mit See-Schlamm gefüllten Erdloch »baden«. Keiner dachte daran, diese Situation zu reflektieren, außer eine Mitarbeiterin. Ob es nicht merkwürdig wäre, wenn zwei Mädchen im Bikini vor der versammelten, grölenden Freizeitgruppe ein Schlammbad nähmen? Ich wiegelte den Einwand ab, geblendet von der stimmungsvollen Gruppendynamik.
Diesen Umgang mit dem Hinweis der Mitarbeiterin als auch die Entscheidung, die Situation laufen zu lassen, bereue ich heute. Ich suchte das Gespräch mit den beiden Teilnehmerinnen, die die Challenge durchgeführt hatten und musste erkennen: wo anfangs die Aussicht, vor der Gruppe mit Mut zu glänzen und im Blickpunkt zu stehen, motiviert hatte, blieb bei beiden anschließend ein fades Gefühl, halbnackt vor der Freizeitgruppe zu stehen und manchen lüsternen Blicken von Teilnehmern ausgesetzt zu sein.

 

3. Die Aufgabe der Mädchen für uns Teilnehmer und Mitarbeiter war anschließend diese: Jeder suchte sich aus der Kiste mit den gesammelten Bikini Oberteilen der Teilnehmerinnen eines aus, zog es zusammen mit der eigenen Badehose an und musste einen Catwalk durch die versammelten Teilnehmerinnen und Mitarbeiterinnen machen. Die Mädchen stimmten anschließend über den Catwalk ab.
Schon beim »Ankleiden« hatte ich selbst unbehagliche Gefühle und fragte mich, ob ich der Einzige wäre, der sich ungern mit entblößtem Oberkörper und Bikini einer Teilnehmerin vor allen bewerten lassen möchte. Auch den Gedanken schob ich weg. »Hab dich nicht so.« Ich wollte abermals kein Spielverderber für die gute Stimmung sein.
Ich, als Leitung, und unser Team im Zusammenspiel hätten viel sensibler mit Nacktheit und mit den eigenen Warnsignalen umgehen müssen, um uns selbst und die Teilnehmenden zu schützen. Der Gedanke »Hab dich nicht so…« als Antwort auf diese Warnsignale ist kein gutes Zeichen.


Meine Learnings daraus waren:

Zimmerkonstellationen frühzeitig prüfen, einen Verhaltenskodex für Mitarbeitende im Umgang mit Schamgrenzen aufstellen und sich vorab überlegen, bei welchen Programmen erhöhte Sensibilität gefragt sein wird. Gruppendynamik kann dazu führen, dass eigene Schamgrenzen eher überschritten werden, als ohne diese Dynamik.

 

Die Präventions-Schulung bot mir zum ersten Mal einen Ort, an dem ich diese Erfahrungen reflektieren konnte.

 

Gabriel Kießling
Fach- und Jugendreferent beim Weissen Kreuz

 

 

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